Predigt über Offenbarung 1, 9-20 am letzten Sonntag nach Epiphanias (Es hat die Gemeinde besonders beschäftigt, dass kurz vorher ein Konfirmand bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist.)
Zu einem fremden Ort nimmt uns Johannes mit, weit weg von dem, was wir sonst erleben, in eine andere Realität.
Manchmal brauchen wir das. Manchmal brauchen wir eine Erholung von der Wirklichkeit, wie sie eben ist. Manchmal brauchen wir eine kleine Flucht – vielleicht indem wir ein bisschen fernsehen oder ein Computerspiel spielen.
Manchmal brauchen wir einen etwas größeren Abstand. Unser Gehirn nimmt sich täglich eine Zeit, in der es sich nur mit sich selbst beschäftigt – den Schlaf. Dann schaltet es die äußeren Einflüsse ab und ordnet sich neu mit allem, was es erlebt hat – einen kleinen Teil davon bekommen wir mit: die Träume. Auch das hat ja etwas von: Verlassen der Wirklichkeit.
Manchmal brauchen wir mehr. Manchmal ist die Wirklichkeit so, dass ich sie eigentlich nicht aushalten kann. In so einer Situation schenkt Gott seinen Gemeinden einen Durchblick in eine andere Wirklichkeit.
„Ich, Johannes, euer Bruder und Gefährte in der Bedrängnis“, beginnt der Predigttext. Das ist die Situation. Bedrängnis. Wir wissen nicht, was die Christen damals im Einzelnen bedrängt hat. Sie haben es nicht aufgeschrieben. Sie hätten sich wohl auch nicht vorstellen können, dass wir, 2000 Jahre später, uns noch dafür interessieren.
Und wenn ich richtig drin stecke, dann fehlen mir ja oft die Worte, um zu beschreiben, wie es mir geht. Schwer zu sagen, noch viel schwerer aufzuschreiben.
Deshalb sind wir auf Rückschlüsse angewiesen, wenn wir verstehen wollen, was die Christen damals bedrängt. Es gibt dann doch Äußerungen, die die Bedrängnis erahnen lassen.
Da gibt es zunächst die äußere Bedrängnis. Im römischen Staat ist es Pflicht, die römischen Götter zu verehren. Christen sagen: Jesus ist der einzige Gott. Sie wurden dem Loyalitätstest unterzogen. Sie wurden vor Götterstatuen geführt. Dort sollten sie die römischen Götter anbeten und Christus verfluchen. Wer das tat, wurde frei gelassen. Wer das nicht tat, wurde hingerichtet. So der korrekte Weg.
Nicht immer wurde dieser Weg eingehalten. Nicht alle römischen Verwaltungsbeamten gingen so vor. Aber im Prinzip war es so. Stellen Sie sich bitte einmal vor, unser Staat würde uns so bedrohen, wenn wir einen Gottesdienst feiern! Eine schlimme Bedrohung. Würden Sie noch kommen, wenn ihr Leben dadurch bedroht wäre? Ich bin froh, dass wir die Frage nicht beantworten müssen.
Dazu kam dann noch die innere Bedrohung. Der Streit zwischen Christen. Wie leben wir richtig? Was gehört sich für Christen und was nicht? Jeder weiß: der Streit mit Menschen, die einem nahe stehen, kann viel schlimmer sein. Dann kommt noch der Druck von außen dazu. Da reagiert man dann leicht gereizt und zu heftig.
Das ist es, was Forscher erschließen. Die Bedrängnis muss groß gewesen sein, damals in den Gemeinden in der Türkei. Es fällt schwer, das auszuhalten. Viele Christen denken: eigentlich habe ich nicht die Kraft dazu.
In dieser Bedrängnis lesen sie, was Johannes gehört und gesehen hat – sie lesen vom Durchblick in eine andere Welt.
Sie lesen von Johannes. Um des Zeugnisses von Jesus Christus willen ist er auf die Insel Patmos verbannt worden. Die Gegner wollen ihn isolieren – isola, die Insel, das passt ja direkt dazu. Die Insel mag ihn von Menschen isolieren, von Gott isoliert sie ihn nicht. Am Sonntag wird er vom Geist ergriffen.
Er hört eine Stimme: was du hörst, sollst du aufschreiben und an die Gemeinden senden. Und als er sich umdreht, sieht er: sieben Leuchter und dazwischen einen, der aussieht wie ein Menschensohn.
Die Christen, die das damals gelesen haben, wissen zweierlei. Sie wissen: der Prophet Daniel, gut 200 Jahre eher, hat eine ganz ähnliche Vision gehabt. Auch er hat in einer Zeit der Bedrängnisse gelebt. Einen ganz ähnlichen Mann hat er gesehen. Von ihm, aus dem Himmel, hat er gehört: die Bedrängnisse haben bald ein Ende. Bald errichtet Gott seine neue Welt. Die Toten werden auferstehen.
Was Daniel damals gehört hat, hat Menschen getröstet. Gott kommt. Gott greift in das Weltgeschehen ein. Gott hilft euch, die ihr bedrängt seid.
Das Bild von Daniel kennen die Christen. Und sie wissen auch: Johannes sieht Jesus. Der Mann, den Daniel schon gesehen hat, hat einen Namen bekommen. Zu ihm gehört jetzt ein Gesicht, das Menschen gesehen haben. Zu ihm gehören Hände, die Menschen geheilt haben. Zu ihm gehört der Mund, der Gleichnisse erzählt hat. Den sieht Johannes.
Was Johannes jetzt sieht, wird im Glaubensbekenntnis in einem kleinen Satz ausgesprochen: Er sitzt zur Rechten Gottes. Er – Jesus Christus – bestimmt den Gang der Weltgeschichte. Nicht die Römer mit ihrer Militärmacht und nicht der Streit, in den wir immer hinein geraten. Er ist der erste und der letzte. Er regiert.
Und er selbst legt Johannes die Hand auf und beauftragt ihn zu sprechen.
Zwei Erklärungen hört Johannes von Jesus für das, was er sieht. Zu den sieben Leuchtern und zu den sieben Sternen.
Die sieben Leuchter, so sagt er, sind die sieben Gemeinden. Also damals: die armen bedrängten Christen in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, in Sardes, Philadelphia und Laodizea. Sie kommen sich ja so vor, als ob sie vereinzelt wären, in einer Welt voll Bedrohung. Nein, sagt die Vision des Johannes, das ist nicht alles. Da gibt es noch eine andere Sicht.
In dieser anderen Sicht seid ihr rings um den Thron von Jesus Christus angeordnet. Er ist ganz nah. Ihr seid euch nah. Die weltliche Wirklichkeit ist: die Gemeinden sind klein, bedrängt und vereinzelt. Die Wirklichkeit vor Gott ist: ihr seid vereint in der Kraft von Jesus.
Und die sieben Sterne? Das sind die Engel der Gemeinden.
Wahrscheinlich hätten es die Menschen damals zuerst anders gesehen. Wahrscheinlich hätten sie spontan gedacht: Sterne, das ist die Art, in der Gott den Lauf der Welt regelt – astrologisch. Jesus hat sie in der Hand. Das ist schon einmal sehr tröstlich. Vielleicht hätten sie das gedacht. Gesagt wird es anders: Engel der Gemeinde.
Und wieso haben Gemeinden Engel? Hat unsere Gemeinde auch einen? Eigentlich weiß man nicht genau, was die Christen damals unter den Engeln verstanden haben. Ich stelle mir vor, dass sie etwas sind wie der Geist, der in einer Gemeinde herrscht. Ein strenger Geist oder Engel in einer hochliturgischen Stadtgemeinde oder ein spontaner, extatischer Geist in einer Gospelgemeinde in New York.
Jesus hat die Sterne in der Hand. Er regiert die Engel der Gemeinden. Er wird sie in den Sendschreiben anreden – so wir er uns als Einzelne anredet, redet er uns auch Gemeinde an.
Das sieht Johannes. Das hört er. Er sieht und hört: Es gibt mehr als die Bedrängnis, die die Christen erleben. Gott lässt ihn sehen und hören, was er auch schon Daniel gezeigt hat: Wer die Welt in der Hand hält.
Aber jetzt hat die Gestalt, die Daniel damals gesehen hat einen Namen: Jesus. Er ist das A und das O, der Anfang und das Ende.
In der Welt Gottes, die Johannes sehen darf, sind die Gemeinden um Jesus versammelt. Er hält die Sterne in der Hand, die Engel der Gemeinden. Er wird sie durch tragen.
Das hebt die Bedrängnis nicht auf. Aber die Christen wissen: sie hat ihre Grenzen. Eines Tages werden alle sehen, was Johannes schon jetzt sieht. Eines Tages wird Jesus erscheinen in seiner Herrlichkeit, dann hat das Leid ein Ende.