Predigt am Karfreitag über Hebr 9, 15.26b-28 6. April 2012

 

15  Darum ist er Mittler eines neuen Bundes: Sein Tod sollte geschehen zur Befreiung von den Übertretungen aus der Zeit des ersten Bundes, damit die Berufenen die Verheißung des ewigen Erbes empfangen. Jetzt aber ist er am Ende der Zeiten ein einziges Mal erschienen, um durch sein Opfer die Sünde aufzuheben. 27 Und wie es den Menschen bestimmt ist, ein einziges Mal zu sterben, und dann kommt das Gericht, 28 so ist auch Christus ein einziges Mal geopfert worden, um die Sünden vieler auf sich zu nehmen. Ein zweites Mal erscheint er nicht der Sünde wegen, sondern zur Rettung derer, die ihn erwarten.


Das ist Theologie: nachdenken über das, was geschehen ist. Und Zusammenhänge herstellen. Fragen: wie hängt das zusammen, was geschehen ist mit der Geschichte Gottes mit uns Menschen? Das tut der Hebräerbrief.

 

Denn: was da an Karfreitag geschehen ist, das braucht eine Erklärung – sonst ist es nicht auszuhalten. Es ist nicht auszuhalten, dass da einfach jemand stirbt, weil Menschen ihre Macht bewahren wollen.

 

Darum geht es. Die mächtigen Juden, die mit den Römern zusammenarbeiten, erleben Jesus als eine Bedrohung. Er muss weg. Wenn nicht, gibt es Unruhe. Und seine Anhänger am Besten auch gleich. Da ist eine Kreuzigung die richtige Maßnahme. Einen Schock müssen sie bekommen. Die Gedanken, die dieser Jesus vertritt, müssen verschwinden.

 

Deshalb werfen sie ihm Aufruhr vor. Er stellt – so sagen sie – die Ordnung des römischen Reiches in Frage. Deshalb wird er getötet – gemein und brutal wie die Römer ihre Feinde töten.

 

Für die Kreuzigung gibt es keine genauen Vorschriften. Wie man es macht, das bleibt den Soldaten überlassen. Die dürfen die Menschen quälen. Sie dürfen sie foltern. Manche brechen ihnen die Beine – das ist noch ein Anflug von Menschlichkeit, dann sterben sie schneller. Wer weiß, wann sonst der Kreislauf kollabiert. Am Kreuz anbinden, annageln, alles ist erlaubt.

 

Viele sind am Kreuz gestorben in der römischen Zeit. Man sieht besser nicht hin – es tut schon beim Zuschauen weh. Vielleicht hat man Alpträume danach. Zumindest weiß man, dass es schlauer ist, sich nicht mit den Römern anzulegen.

 

Jesus, der Hoffnungsträger, gerät in die Mühlen der römischen Justiz. Er wird verhaftet, verhört, verurteilt. Da wissen die Jünger noch nicht, wie es ausgehen wird. Für sie ist er erst einmal weg.

Wie werden sie gebetet haben, dass er wieder zurück kommt. Dass die jüdische Justiz, dass die Römer erkennen: dieser Mann tut nichts Böses, er hilft Menschen. Eine Zeit des Bangens.

Dann erscheint er wieder – auf dem Weg zum Kreuz. Das Schrecklichste geschieht, das Brutale, das, wofür es eigentlich keine Worte gibt.

 

Die Bibel erzählt: Die Jünger erleben es – und zerbrechen. Am Karsamstag gibt es keine Jünger mehr, es gibt nur noch Menschen auf der Flucht. Sie wissen: die Regel „wie der Herr, so's Gescherr“ gilt auch für die römische Justiz. Sie haben Angst, dass mit einmal ein Römer da steht und fragt: „Sie sind Anhänger dieses Jesus von Nazareth, des Gekreuzigten? Dann kommen Sie mal mit!“

Der Karfreitag, für sich allein, raubt den Jüngern die Worte und die Gedanken. Nachdenken über das Kreuz können sie erst nach der Auferstehung. Erst dann kommen ihnen langsam wieder Worte. Dann später fangen sie an, Erklärungen zu suchen und zu finden. Die Theologie des Kreuzes beginnt. Nach der Auferstehung.

 

Aber dann muss sie auch beginnen. Man kann das Kreuz nicht erklären ohne Theologie. Wenn man das Kreuz erklären will, dann muss man von Gott reden. Wenn man das Kreuz erklären will, dann muss man erklären ob und wie es in Gottes Plan passt.

Genau das haben die Christen versucht. Im Neuen Testament. Viele Anläufe, das Kreuz zu verstehen.

 

Es hat nicht mit dem neuen Testament aufgehört. Es geht mit der christlichen Theologie weiter. Immer wieder kreisen die Gedanken der Theologen um das Kreuz. Martin Luther hat es lapidar formuliert: Crux probat omnia – das Kreuz ist für alles der Prüfstein. Es gibt keine christliche Theologie ohne den Versuch, das Kreuz zu erklären, ohne zu erklären: deshalb ist Christus für uns gestorben.

 

Wie erklärt der Herbräerbrief die Kreuzigung?

 

Wie stellt er den Zusammenhang her zwischen der Liebe Gottes zu uns und dem Kreuz? Wie macht er deutlich, dass sie Gottes Liebe gerade da zeigt?

 

Er vergleicht es mit dem Sühnopfer.

 

Das Sühnopfer gehört zum Bund zwischen Gott und Israel. Gott sagt: ich will dein Gott sein, Israel, du sollst mein Volk sein. Dazu gibt er Israel die Gebote.

 

Es zeigt sich: Israel verstößt gegen die Gebote – immer wieder geschieht das, was wir Sünde nennen. Der Bund mit Gott wird verletzt. Wie kann er wieder in Ordnung kommen?

 

Dafür ist das Sühnopfer da: einmal im Jahr geht der hohe Priester ins Allerheiligste. Er bringt Blut mit – Blut, von einem Tier, das geschlachtet ist. Mit diesem Blut vollzieht er die Sühnehandlung.

Mit dem Opfer sagt Israel: Wir erkennen an, dass wir vor dir, Gott, gesündigt haben. Wir haben den Bund verletzt. Stellvertretend für uns fließt das Blut des Tieres. Und Gott sagt: Ich lasse das gelten. Es soll wieder gut sein zwischen uns.

 

So ist das zwischen Gott und Israel geregelt. Aber das war nur der erste Bund, sagt der Hebräerbrief. Christus hat mehr getan.

Er ist nicht mit dem fremden Blut eines Opfertieres zum Altar gegangen, er hat selbst geblutet. Wie das Opfertier damals symbolisch die Sünde Israels getragen hat, so trägt er die Sünde der Menschen. Er hat sich selbst zum Opferlamm gemacht.

Das bewirkt den Unterschied: das Opfer in Israel muss jährlich wiederholt werden. Das Opfer von Jesus Christus gilt ein für alle mal. Der neue Bund mit Gott steht. Jetzt ist Jesus im Himmel – nicht nur im Allerheiligsten des Tempels.

 

Das haben wir erfahren, sagt der Autor des Hebräerbriefs. Drei mal kommt das Wort apax vor in den drei Versen: ein mal – und das gilt. Drei mal macht dieses Wort den Unterschied deutlich. Gott hat Jesus zum hohen Priester und gleichzeitig zum Opfer gemacht. Er hat sich selbst fest gelegt. Es gilt ein für alle Mal.

 

„Das wäre mein Fazit,“ könnte der Autor des Hebräerbriefs sagen: „für mich ist das Kreuz das Opfer, das alle weiteren Opfer überflüssig macht! Das ist meine Erklärung. Das ist meine Theologie.

So sehr ist die Sünde erledigt, dass ich schreiben kann: Ein zweites Mal erscheint er nicht der Sünde wegen, sondern zur Rettung derer, die ihn erwarten.“


Und wir?

 

Wir sind in einer anderen Situation als die Menschen damals, die den Hebräerbrief lesen. Wir kennen das nicht so mit dem Sühnopfer. Sündenböcke kennen wir – aber dass jemand zugibt: ich habe einen Fehler gemacht, das kommt kaum vor. Kaum bei Einzelnen, noch viel weniger bei einem ganzen Volk. Stellen Sie sich vor: Wir hätten so etwas wie einen Hohen Priester, wie Israel damals. Er würde uns fragen: für welche Sünden des deutschen Volkes aus dem Jahr 2011 soll ich um Vergebung bitten? Wüssten Sie eine Antwort?

 

Sünde und Sühne sind fremde Begriffe geworden. Warum? Mir fallen zwei Gründe ein.

 

Vielleicht sind wir nicht mehr so sensibel gegenüber eigener Schuld. Wir üben eher, uns zu verteidigen als Schuld zuzugeben. Man kann sich leichter verteidigen, wenn man den Fehler schnell vergisst. Gar nicht dran denken – das haben wir geübt.

 

Vielleicht liegt es aber auch, dass so oft gehört haben: Eure Schuld ist euch vergeben. Vielleicht können wir uns nur noch schlecht vorstellen, wie Sünde an einem kleben kann.

 

Vielleicht verlieren wir damit diesen Versuch, das Kreuz zu erklären.

Aber vielleicht wird damit auch unser Blick frei. Vielleicht können wir jetzt die Kreuzigung realistischer verstehen, als das, was sie war: eine brutale Aktion der Macht, die sich selbst bewahren will.

 

So oder so: der Erklärungsversuch, die Theologie, ist sekundär. Wichtig ist das Kreuz, dass Jesus für uns gestorben ist. So viel sind wir ihm wert.