Predigt am Sonntag Judika, 25. März 2012 über 4. Mos, 24, 4-9: Die eherne Schlange
Manchmal konzentriert sich meine Wahrnehmung auf einen Punkt, auf eine Sache. Wie ein Kaninchen, das auf eine Schlange starrt. Die Fachleute nennen das eine Trance. Das Kaninchen sieht nur noch die Schlange.
Beim Hypnotisieren gibt es das auch. Da pendelt ein glänzender Gegenstand vor deinen Augen und die hörst die einschläfernde Stimme: Du wirst ruhig – die Ruhe ergreift von dir Besitz – sie wandert von den Beinen hoch in den Körper – du spürst, wie deine Augen schläfrig werden.
(Spüren Sie es?)
Trance bedeutet: Aufmerksamkeit ist auf eine Sache. Alles andere tritt zurück. Als ob das Gehirn eine Schaltung hat, die sagt: Vergiss alles andere, das ist jetzt nicht wichtig.
Das Kaninchen sieht nicht die vielen Richtungen, in die es laufen könnte, weg von der Schlange. Es spürt nicht die Kraft in seinen Beine, die viel schneller sind als die Schlange. Es hört nicht den Eichelhäher und auch nicht die anderen Vögel. Da sind nur noch die Augen der Schlange, ihre Zunge, die Gefahr.
So eine Vorrangschaltung kann nützlich sein, damit ich die Gefahr rechtzeitig sehe. Im Gras oder Laub: etwas längliches, schlängelndes bedeutet Schlange, Gefahr, weg. Da muss keiner überlegen. Da gibt es keine Freiheit. Das ist fest einprogrammiert. Das schaltet sofort auf Gefahr, egal, was sonst los ist.
Das ist sinnvoll. Seit es Menschen gibt, gibt Situationen, in denen Menschen man entweder schnell reagiert oder nicht mehr reagieren kann. Bei Schlangen und Tigern gibt es die Schnellen und die Toten.
Die schnell reagiert haben, haben Kinder bekommen. Unsere Vorfahren waren Menschen, die bei Tigern und Schlangen schnell genug waren. Deshalb gibt es uns. Deshalb reagieren wir auf Schlangen. Das ist ein Hintergrund dieser Geschichte.
Noch ein zweiter Hintergrund. Diese Geschichte ist hinterher erzählt worden, als sie lange vorbei war. Israel ist bewahrt worden. Gott ist weiter gegangen mit seinem Volk. Die, die Geschichte haben, haben gesagt: Damals, unsere Vorfahren, sind gerettet worden. Wir gehören zu diesen Menschen. Ohne dass wir es verdient hätten.
So ähnlich sagen es die Christen. Sie sagen: wir auch. Wir haben es noch weniger verdient – wir haben nicht zum auserwählten Volk gehört. Aber: seit Jesus sind wir dabei. Seit Jesus dürfen wir diese Geschichte als unsere Geschichte lesen.
Es ist eine Geschichte von zwei Herzen in der Brust der Israeliten, von zwei Stimmen in ihrem Inneren. Auf der einen Seite schlägt ihr Herz für die Freiheit. Die Sklaverei in Ägypten war nicht mehr zu ertragen. Alles ist besser als bis zum Lebensende unterdrückt sein.
Der Drang nach Freiheit, nach Selbstbestimmung ist tief verankert in uns Menschen. Ich kann die gleiche Sache tun – es ist ein Riesenunterschied, ob ich sie aus freiem Willen tue oder weil es jemand mir vorschreibt.
Zum Beispiel ihr Konfirmanden: ob ihr Euer Zimmer aufräumt, weil ihr es schön haben möchtet oder weil jemand von den Eltern es gesagt hat – man möchte kaum denken, dass es die gleiche Handlung ist.
Das ist das Freiheitsherz, die Stimme der Freiheit. Als Mose erzählt hat von dem Land, das den Israeliten selber gehören sollte, da wurde dieses Herz ganz stark. Israel ist mitgegangen auf den Weg in die Freiheit.
Das andere Herz, das in der Brust der Israeliten schlägt ist, das sagt: zum Leben brauche ich Sicherheit. Stabile Verhältnisse. Die Gewissheit, dass morgen auch etwas da ist zu trinken und essen. Dass ich heute abend einen Ort finde, an dem ich ohne Angst einschlafen kann.
Auch das ist ganz tief verwurzelt. Wohngrundstücke in Wassernähe am Hang sind überall auf der Welt die teuersten Grundstücke – für Hamburger muss ich nur Blankenese sagen. Wasser muss da sein, damit wir zu trinken haben, damit es wächst und der Hang schützt vor Feinden. Sicherheit ist ein elementares Bedürfnis.
Als Mose Israel in die Freiheit gerufen hat, da konnten die Israeliten sagen: Jetzt stellen wir den Wunsch nach Sicherheit eine Weile zurück. Am Ende verspricht uns Gott beides: dass wir sicher wohnen im Land der Freiheit.
Aber in der Wüste haben sich Zweifel gemeldet. „Auf was haben wir uns da eingelassen?“ haben sie gefragt, und: „sollen wir in der Wüste sterben?“
Die Geschichte beginnt damit, dass noch ein Umweg angesagt wird. Das Land der Edomiter kann man nicht durchqueren, man muss herum gehen. Das ist zu viel für das Volk. Einmal muss die Wanderei ein Ende haben. Wir wollen irgendwo ankommen, sagen die Israeliten – und wenn es in Ägypten ist. Mit einmal scheinen sich die Wünsche nach Freiheit und nach Sicherheit zu widersprechen. Vorher war beides das Ziel: Freiheit und Sicherheit. Gott hatte es versprochen. Jetzt scheint es Sicherheit nur noch zu geben, wenn man auf Freiheit verzichtet.
Das Volk murrt. Wir wollen zurück nach Ägypten. Was hilft uns Freiheit, wenn wir nichts zu essen haben? Sie murren gegen Gott sie murren gegen Mose. Und ein bisschen murren sie auch gegen den eigenen Wunsch nach Freiheit.
In diesem Kuddelmuddel der Wünsche sind die Schlangen da. Dem Volk ist gleich klar: das ist die Strafe. Die Schlangen kommen von Gott. Wir haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen Mose geredet haben. Und sie bitten Mose: Bete zum HERRN, damit er uns von den Schlangen befreit.
Die, die Geschichte erzählt haben, sagen: Es war knapp. Der Weg in Freiheit war bedroht. Die Sicherheit schien uns mehr wert zu sein als Gottes Verheißung. Unser Vertrauen war klein.
Aber die Geschichte geht trotzdem weiter. Mose hat zu Gott gebetet. Gott hat auf sein Gebet geantwortet. Eine Bronzeschlangesoll er anfertigen Wer sie ansieht, stirbt nicht. Sogar, wenn er schon gebissen ist.
Die Schlangen bleiben. Sie bleiben weiter bedrohlich. Genau wie das Volk gefährdet bleibt. Immer wieder kann ja Sicherheit zum Gegensatz von Freiheit werden. So ein Kuddelmuddel der Bedürfnisse kann wieder kommen.
Israel wird den Weg in die Freiheit nicht gehen, wenn es denkt: dafür müssen wir alle Sicherheit aufgeben. Das Volk wird nur weitergehen, wenn die Menschen glauben, was Gott verspricht: ich bewahre euch auf dem Weg in die Freiheit. Das symbolisiert die eherne Schlange.
Auf dem Boden die Schlangen stehen für den Konflikt der Bedürfnisse. Für den schlechten Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit.
Die Schlange des Mose steht für Freiheit und Sicherheit als Ziel, als Verheißung Gottes. Israel wird weiter leben, wenn es diese Verheißung in den Blick nimmt.
Eine Nachbemerkung:
Die Christen haben gesagt: Das Kreuz ist für uns das, was für Israel damals die Schlange war. Es zeigt Gottes Weg und Gottes Verheißung. In der Form, in der wir es stehen haben, als offenes Kreuz, zeigt es: der Weg in den Himmel geht für Gott durch das Leiden und durch das Sterben.
Dahin soll euer Blick gehen, wenn ihr fürchtet, dass eure Freiheit in Gefahr ist. Das Kreuz zeigt, wie frei Jesus ist. Dahin soll euer Blick gehen, wenn ihr fürchtet, dass eure Sicherheit in Gefahr ist. Das Kreuz zeigt: nur wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen.
Es gibt den Blick des Kaninchens auf die Schlange. Der Blick auf die Schlange von Mose oder auf das Kreuz ist ein anderer Blick Für diesen Blick gilt: Er weitet unsere Perspektive. Er lässt uns die Wirklichkeit sehen, wie sie ist: Eine Wirklichkeit mit Gottes Verheißung.