Der geschichtliche Hintergrund zum Weg des Buches

„Gefühlt“ ist Österreich ein katholisches Land. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit – es gibt über 300.000 evangelische Christen, das ist fast jeder 25. Österreicher. Und: Österreich war einmal viel evangelischer. Ab 1520 fand die Reformation auch hier viele Anhänger. Zuerst unterstützten Pfarrer die neue Lehre von der Bibel, die man verstehen kann und von der Gnade, die alles übersteigt. Später war es dann der Adel – auf dem Höhepunkt der Reformation um 1570 waren 90 % der Adligen evangelisch.

Für die offizielle katholische Kirche waren die evangelischen Christen Ketzer, für die evangelischen Theologen war die katholische Lehre eine Irrlehre – wie sollte man in dieser Situation weiter verfahren? 1555 einigte man sich im Augsburger Religionsfrieden darauf, dass der Landesfürst die Religion seiner Untertanen bestimmt. In Österreich waren das die katholischen Habsburger. Ferdinand II fing an, Schritt für Schritt dieses Recht durchzusetzen.

Für die Evangelischen begann eine schwere Zeit. Wer offen zum evangelischen Glauben stand, wurde ausgewiesen. Es bildete sich ein Geheimprotestantismus – Evangelische im Untergrund. Sie hielten den offiziell verbotenen Glauben weiter durch. Besonders wichtig – und verboten - waren dabei die Bücher. Bei einem Bauern in Arming wurde gefunden: eine lutherische Bibel, zwei Gesangbücher, eine Psalmauslegung Luthers, mehrere Gebetbücher und eine katholische Bibel. Immer wieder versuchten Menschen über über die Alpen evangelische Bücher aus Deutschland nach Österreich zu schmuggeln. Immer wieder hatten sie Erfolg. Im Geheimen wurden evangelische Gottesdienste gefeiert – fast 200 Jahre lang.

Kaiser Joseph II (1741 -1790) war ein Anhänger der Aufklärung. 1781 erließ er ein Toleranzpatent, in er den „augsburgischen und helvetischen Religionsverwandten“, also den evangelischen Christen die Ausübung ihrer Religion gestattet. Wenn sich 500 Menschen fanden, durften sie eine Gemeinde gründen. Bereits 1785 hatten sich mehr als 100 000 gemeldet, 49 Gemeinden wurden gegründet – vor allem in der Gegend zwischen Lienz und Villach.

Aber Unterschiede sollten bleiben. Die evangelischen Gemeinden nur Bethäuser ohne Turm und Apsis bauen, Kirchen wurden erst ab 1848 erlaubt.

Der Weg des Buches – auf den Wegen der Bücherschmuggler durch Österreich

Von Deutschland über die Alpen bis in den Süden Österreichs sollten die Bücher gebracht werden. Christen leben ja von Gottes Wort – sie brauchen es. Christen in Österreich haben einen Fahrrad – und Wanderweg eingerichtet, der von Passau nach Agoritschach an der slowenischen Grenze führt. (http://www.wegdesbuches.at) Unterwegs finden sich immer wieder Spuren evangelischen Glaubens vergangener Zeiten.

Ich bin Teile des Weges von Süden nach Norden mit dem Fahrrad gefahren.

 

24.6.

Villach – Nötsch

Eine schöne internationale Zugfahrt nach Villach – eine österreichische Schulklasse („Herr Professor, dürfen wir...?“), kroatische Volleyballerinnen, Griechinnen und Russen, die sich versuchen, über die Vorteile ihrer Länder zu verständigen – alle zwischen 15 und 20. Ein faszinierender Gegensatz: hier die Vielfalt der Kulturen Europas und dann, auf dem „Weg des Buches“ die Erinnerung an die Menschen mit ihrer Konzentration auf das eine Wort, das zum Leben hilft.

Die kurze Fahrradfahrt mit dem Abstecher nach Agoritschach. Dort wurde nach der Reformation das Evangelium auf slowenisch verkündigt. Im Geheimen blieb die Gemeinde erhalten – paradoxerweise war sie dann durch die Toleranz (als slowenische Gemeinde) bedroht, weil sich Deutsch als Sprache immer mehr durchsetzte.

Ich frage mich: In welcher Sprache ist mein Glaube zu Hause? Mit welchen Worten rede ich von Gott?

 

25.6.

Nötsch – Ebene Reichenau

Gleich die Steigung nach Bad Bleiberg – nach dem Toleranzpatent fanden sich hier nur 496 Menschen, die sich zum evangelischen Glauben bekannten, 4 zu wenig für eine Gemeinde. Die Bergarbeiter haben dann nach Wien appelliert mit dem Argument, die Sterblichkeit in den Bergwerken sei so groß – und Wien hat die Gründung der Gemeinde gestattet.

In Einöd besuche ich ein Toleranzbethaus an der Straße, in dem noch heute regelmäßig Gottesdienste stattfinden. 70 Jahre hat es gedauert, bis Türme und Apsis erlaubt wurden sind. Im Nachherein kommt es einem lächerlich vor, aber wie viel Kränkung, wie viel: „ihr seid nicht richtig“ haben sich Christen da gegenseitig zugefügt? Und wie verändert es umgekehrt den Glauben, wenn man schon äußerlich gezeigt bekommt: so richtig seid ihr nicht akzeptiert?

In der Ebene Reichenau finde ich es zu früh einzukehren und überlege, mir dir Nockalmstraße noch vorzunehmen. Da stoppt mich ein Gewitter. Ich stelle mich unter. Die Bäurin lädt mich zu einer Tasse Tee und zu einem Stück Kuchen ein. In der Ecke ein Papstbild. Sie findet es selbstverständlich, dass ich einen evangelischen Pilgerweg fahre. Ich finde ein Nachtquartier und überlege mir, dass die alten Bibelschmuggler bestimmt auch oft auf gutes Wetter warten mussten, bis ein Weg in den Bergen möglich wurde.

 

 

Toleranzbethaus Einöd
Toleranzbethaus Einöd

26.6.

Ebene Reichenau - Murau

Am nächsten Tag merke ich: Es war eine gute Fügung, dass mich das Gewitter gestoppt hat: die Nockalmstraße ist richtig schwer, ich hätte sie nach den 80 km gestern wohl kaum noch geschafft. Aber wunderschön – die Ruhe im Morgenwald, noch vor den vielen Motorrädern, die ersten Blicke, schließlich, auf 2000 m das herrliche Panorama – hinunter ins Tal und noch einmal auf 2000 m – wieder herunter nach Innerkrems und noch einmal fast 300 m hoch für den Übergang ins Bundschuhtal, das an die aufständischen Bauern erinnert. Die Bauern erhoben, unterstützt durch die Gedanken der Reformation Forderungen nach Freiheitsrechten und wurden blutig niedergeschlagen – wir später können sagen: die Forderungen waren berechtigt, es war aber noch nicht so weit. Aber: wenn es niemand probieren würde, wie würden wir dann erfahren, wenn es so weit ist? Mit den Worten Kurt Martis: Wo kämen wir hin, wenn alle sagten: Wo kämen wir hin? und keiner ginge, um einmal zu sehen, wo wir hinkämen, wenn wir gingen?

 

 

Auf dem Sölkpass
Auf dem Sölkpass

27.6.

Murau – Schladming

Auf der Auffahrt zum Sölkpass muss ich mich wieder unterbrechen lassen: ein Plattfuß vorne. Ich entschließe mich, es zunächst mit Pumpen zu versuchen – tatsächlich, es reicht bis zum Abend. Durchs Ennstal geht es nach Schladming – hier stehen evangelische und katholische Kirche im Abstand 200 m. Die katholische wurde 1522 gebaut – dann war sie eine Zeit lang evangelisch, vor der Gegenreformation. Die evangelische sollte schön werden, deshalb ließ sich die Gemeinde bis 1862 Zeit, sie zu errichten. Hier ist jetzt der Altar aus der Reformationszeit untergebracht, der damals in der katholischen Kirche stand – ein fröhliches Hin und Her. Heute arbeiten die Gemeinden gut ökumenisch zusammen – in der Toleranzwoche, die gerade gefeiert wird, diskutieren ein evangelischer und ein katholischer Altbischof darüber, was die Kirchen voneinander gelernt haben.

Die evangelische Kirche hat 1000 Plätze bei 4000 Gemeindegliedern. Ich frage mich: wann haben wir in Deutschland aufgehört, Kirchen so zu bauen, dass alle Christen kommen können? Wann werden wir wieder damit anfangen?

Ev. Kirche in Schladming
Ev. Kirche in Schladming

 

29.6.

Schladming – Bischofshofen

Ich habe die „evangelische Zone“ und den Weg des Buches wieder verlassen. Im Jahr 711 gründete der heilige Rupert hier ein Kloster. 1400 Jahre Christen – mit kurzen Unterbrechungen – was für eine große Kontinuität in der Geschichte des Glaubens! Aber auch im Bistum Salzburg gab es evangelische Christen. 1732 kam es hier zu der größten Ausweisungsaktion: 20.000 mussten ihre Heimat verlassen, nachdem sie sich zu ihrem Glauben bekannt hatten - darunter auch Vorfahren von mir, die dann nach Preußen kamen, das schon eher tolerant war.

Das war 50 Jahre vor dem Toleranzpatent. Kein Wunder, dass es auch 1781 eines großen Mutes bedurfte, sich als evangelisch zu zeigen – wer konnte denn wissen, ob sich nicht auch dieses Patent aus Falle herausstellen würde?

Was bewirkt es für den Glauben, wenn er bedroht wird, wenn er unterdrückt wird? Wird er konzentrierter? Wird er enger? Eine Frage, die man nicht allgemein beantworten kann. Ich kann ja nur in meiner Situation versuchen als Christ zu leben, voll Respekt vor den Schwestern und Brüdern, die zu anderen Zeiten und an anderen Ort den Weg gegangen sind und gehen.